
Ein Londoner Polizist vor dem Eingang der Wohnung, in der die drei Frauen gefangengehalten wurden. (Bild: Keystone)
Der Londoner Sklavenfall macht ratlos, man sucht vergeblich nach stimmigen Antworten. Zu monströs sind die Umstände. Irgend etwas in uns sträubt sich instinktiv, nach rationalen Argumenten zu suchen, um das Unvorstellbare zu erklären. Aus Selbstschutz wollen wir nicht wahrhaben, zu was Menschen fähig sind. Noch weniger wollen wir akzeptieren, was Menschen mit sich machen lassen. Doch was in London passiert ist, gehört zum täglichen Wahnsinn der Normalität.
Dieser Wahnsinn besteht in der Besonderheit, dass ein älteres Maoisten-Paar drei Frauen drei Jahrzehnte lang versklaven konnte. Ein 30-jähriges Opfer beschrieb es treffend. Sie habe sich gefangen gefühlt «wie eine Fliege im Spinnennetz». Einem mentalen Netz, müsste man ergänzen. Denn sie schaffte es immerhin, einem Nachbarn, den sie offenbar durch das Fenster beobachten konnte, 200 Liebesbriefe zu schreiben.
Obwohl sie in den Briefen ihr Martyrium beschrieb, reagierte der Empfänger nicht und liefert damit ein weiteres Beispiel für den Wahnsinn der Normalität. Denn der Fall zeichnet ein Sittenbild, mit dem wir am liebsten nichts zu tun hätten. Doch Wegschauen geht nicht, London ist überall.
Wie sind solche Syndrome erklärbar? Es braucht nicht viel dazu, nur Opfer und Täter.
Die Opfer sind meist Menschen, an denen das Leben vorbeigezogen ist: Labil, unsicher, ängstlich, ohne Selbstwertgefühl, autoritätsgläubig.
Komplexer ist das Charakterbild der Täter. Es sind oft Psychopathen mit erheblichen Persönlichkeitsstörungen und emotionalen Defiziten. Sie brauchen das Machtkonstrukt, um sich psychisch zu stabilisieren. Ihr Sadismus resultiert aus einer Art Überlebensstrategie. Deshalb sind sie auch fähig, ihre ganze Lebensenergie in die Verwirklichung ihrer wahnhaften Ideen zu investieren. Es geht ihnen in ihrer narzisstischen Verblendung nie um die Anhänger, sondern nur um ihre eigenen krankhaften Bedürfnisse. Ihnen ist nur mit strafrechtlichen Mitteln beizukommen, weil sie in ihrer Besessenheit nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können.
Doch wie schaffen es Sadisten, Menschen in die totale Abhängigkeit zu ziehen und sie hörig zu machen? Das wichtigste Instrument ist ihr Instinkt. Sie riechen die Ängste und Defizite ihrer potentiellen Opfer förmlich. Dann locken sie diese mit Heilsversprechen aller Art – politische, weltanschauliche, spirituelle, religiöse – an und zeigen ihnen einen neuen Lebenssinn auf. Anfänglich geben sie den lieben Onkel, sie bieten Halt und Geborgenheit. Die politische Ideologie diente den Tätern in London als Einstiegsdroge.
Haben die Umgarnten angebissen, sind sie bereits verloren. Nun webt der Täter sorgfältig Faden um Faden seines Spinnennetzes. Er erhöht langsam die Anforderungen, reagiert bei Widerstand mit Liebesentzug, bei Anpassung belohnt er seine Opfer mit Zuwendung. Ausserdem baut er eine Gruppendynamik auf, die zu einer Konkurrenzsituation unter den Anhängern führt.
Nun operieren die Täter geschickt mit den suggestiven Mitteln Sehnsucht und Hoffnung, speziell aber mit der Angst. Die Opfer verlieren die Orientierung und misstrauen ihren eigenen Gefühlen. Schliesslich mündet die Indoktrination in einen Einbruch des Selbstwertgefühls und einer emotionalen Regression: Sie werden gemütsmässig wieder ein Kind, das nur überleben kann, wenn es beim Täter Halt findet. Dazu muss es sich ihm unterwerfen.
Mit diesem System pflanzen die Täter den Opfern das Gefängnis ins Hirn ein. Besser: Ins Bewusstsein oder in unbewusste Sphären.
Solche Minisekten gibt es überall, weil überall Täter mit dem erwähnten Profil leben. Diese sind im christlichen Umfeld zu finden, wie das Beispiel des «Hasch-Jesus» von Wila zeigt. Er erzog seine Tochter mit alttestamentarischen Methoden und quälte sie zu Tode. Solche Täter tummeln sich aber auch im esoterischen Milieu: Als Wahrsager, Handaufleger, Geistheiler und Medium haben sie die perfekten Voraussetzungen, um ihr Netz zu spinnen und die Anhänger darin zu verstricken. Erwähnt sei der italienische Heiler Ernano Barretta.
Sein Schweizer Sektenmitglied Held Sgarbi war so hörig und verblendet, dass er es schaffte, reiche Frauen abzuzocken. Susanne Klatten, Deutschlands reichste Frau, erleichterte er um sieben Millionen Euro. Die Auswirkungen sektenhafter Verblendung sind zwar nicht immer so verheerend wie im Sklavenfall von London, sie können aber auch noch dramatischer sein, wie der Massenmord und -suizid der Sonnentempler zeigte.
Möglich sind solche Phänomene in freien Gesellschaften nur, weil man Menschen mit psychologischen Methoden abrichten kann.