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Channel: Hugo Stamm
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Tod der indischen Studentin: Sittenzerfall trotz Volksfrömmigkeit

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Kerzen werden in Indien für das Vergewaltigungsopfer entzündet. (Keystone)

Kerzen werden in Indien für das Vergewaltigungsopfer entzündet. (Keystone)

Bei meinem Impulstext aus Indien beschrieb ich die erstaunliche Volksfrömmigkeit, die ich als sozialen Kit empfand. Gleichzeitig erlebte ich die negativen Auswirkungen der strengen Konventionen, die eine kulturelle und geistige Entwicklung bremse: Die Ungerechtigkeit des Kastenwesens und die Unterdrückung der Frauen. Diese Missstände liessen sich nur durch eine emanzipatorische Entwicklung und eine Aufklärung beheben, schrieb ich sinngemäss.

Diese Aussagen stiessen bei einzelnen Kommentatoren sauer auf, sie bezichtigten mich der kolonialistischen Denkweise. Der tragische Tod der indischen Studentin, die von sechs jungen Männern in einem fahrenden Bus (!) vergewaltigt und dann aus dem Fahrzeug geworfen wurde, zeigt die verheerende Wirkung einer Mentalität, in der Frauen als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden. Wie steht es um das moralische Empfinden in einer Gesellschaft, in der Vergewaltigungen als Kavaliersdelikt betrachtet werden und von Polizisten nur ungern geahndet? Was ist von einem frommen Land zu halten, in dem heute noch Millionen von Mädchen abgetrieben werden, weil ein stolzer Vater nur Söhne will? Wo sind die Priester, die gegen diese sinnlose Vernichtung von Leben das Wort erheben?

Gläubige auf der ganzen Welt verteidigen ihre religiöse Haltung gern mit dem Argument, dass ohne Religion unser Planet noch mehr ein Hort der Barbarei wäre. Glaubensgemeinschaften hätten Moral und Ethik in die Welt gebracht. In unseren Breitengraden verweisen sie gern auf die zehn Gebote.

Indien scheint ein Beispiel zu sein, das diese These ad absurdum führt. Obwohl der Glaube – vor allem der Hinduismus – tief verankert ist, im Alltag gelebt wird und die soziale Klammer darstellt, werden zwei zentrale moralische Aspekte schwer verletzt: Die Gleichheit der Menschen durch das Kastenwesen und die Unterdrückung der Frauen.

In Mitteleuropa haben wir die schlimmsten Ungerechtigkeiten überwunden. Nicht, weil der Einfluss der Kirchen auf unser moralisches Empfinden eine besonders positive Wirkung gehabt hätte, sondern vor allem, weil wir dank der Säkularisierung Menschenrechte einforderten und die Aufklärung förderten. Beides teilweise gegen den Widerstand der Kirche.

So sehr mir die Volksfrömmigkeit in Indien imponiert: Wichtiger als jeder Glaube und jede Frömmigkeit ist die Gerechtigkeit. Was nützt eine Frömmigkeit, wenn sie ihre eigenen moralisches Anforderungen nicht einhält und eine Entwicklung verhindert, die das Wohl des Einzelnen im Auge hat?


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