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Channel: Hugo Stamm
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Religiöser Wahn in Jerusalem

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Religiöse und spirituelle Phänomene gehören zu den stärksten seelischen Kräften, die in uns Menschen schlummern. Werden sie auf unheilvolle Weise geweckt, entfalten sie mitunter destruktive Energien und stürzen Menschen in psychische Grenzzustände. Im Extremfall drohen auch psychische Auffälligkeiten bis hin zu Wahnvorstellungen und Psychosen. Die Psychologie hat denn auch den Begriff ekklesiogene Neurose kreiert.

Doch dies ist in vielen Fällen schon beinahe eine Beschönigung eines verhängnisvollen Syndroms. Es gibt unzählige Beispiele dafür. Da sind die Massensuizide im Sektenmilieu. Zum Beispiel die Volkstempler von Jim Jones, die sich in einem Wahn umbrachten. Welche psychischen Kräfte am Werk waren, zeigte die Tatsache, dass Mütter ihren Babys Gift in den Mund spritzten, bevor sie selbst das tödliche Gebräu tranken. Die religiösen Überzeugungen waren also stärker als die Mutterliebe. Insgesamt kam es zu einem Massensuizid mit über 900 Toten.

Auch die Sonnentempler in der Schweiz demonstrierten, welche Kräfte religiöse Überzeugungen freisetzen können. Der harte Kern der Sekte brachte zuerst 23 Glaubensgeschwister um, um sich einen Tag später auf Anordnung ihres Gurus Jo Di Mambro selbst umzubringen. Dabei glaubten sie, die bevorstehende Endzeit zu überleben.

Was für eine Dynamik ein fundamentalistischer Glaube entwickeln kann, zeigt auch das Jerusalem-Syndrom. So entwickeln Pilger in der „heiligen Stadt“ in ihrer religiösen Verzückung oft solche Suggestivkräfte, dass sie restlos von Sinnen sind. Es beginnt meist mit Wahrnehmungsverschiebungen und endet in psychotischen Schüben. Die Überzeugung, das Leiden von Jesus in der Via Dolorosa authentisch nachzuempfinden, führt zu einer unkontrollierbaren emotionalen Überflutung. Besteht eine psychische Latenz, kann es zur Depersonalisierung und zu psychotischen Reaktionen kommen.

Die „Irren“, die in ihrer Überidentifikation mit Jesus glauben, der Sohn Gottes zu sein, verhalten sich auffällig und werden meist in eine psychiatrische Klinik geführt. Spezialist für solche Fälle ist der Psychiater Gregory Katz. Er kennt über 1000 Gläubige, die in Jerusalem psychotisch wurden. Viele konnten mit Medikamenten „ausgenüchtert“ werden und nach ein paar Tagen heimreisen. Manche wachten aber nicht mehr aus ihrem Religionstrauma auf.

Religiöse und spirituelle Überzeugungen und Rituale können zweifellos beglückende Gefühle auslösen. Man sollte sich aber auch bewusst sein, dass ein radikaler Glaube eine Dynamik entwickeln kann, der Gläubige in psychische Extremsituationen führt und einen rligiösen Wahn bewirkt. Deshalb sollten sich Gläubige immer mal wieder kritisch mit ihrem Glauben auseinandersetzen, Fragen stellen und die Vernunft einbeziehen. Natürlich ist es ein Rausch, sich von den überwältigenden Gefühlen mitreissen zu lassen. Doch es besteht die Gefahr, dass man nicht mehr rechtzeitig aufwacht.

Gläubige interpretieren diesen Religionsrausch oft falsch. Sie glauben, die starken Gefühle seien Ausdruck ihrer starken religiösen Überzeugung und Gottesnähe. Man kann aber auch argumentieren, die Emotionen würden lediglich von Sturzbächen von Glückshormonen ausgelöst und hätten wenig mit Glauben zu tun.


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