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Channel: Hugo Stamm
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Tödlicher Aberglaube

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Keystone

Radikale Esoteriker lehnen die Schulmedizin ab: «Heilende» Steine werden an einer Esoterikmesse präsentiert. (Keystone/Christophe Ruckstuhl)

Das Drama um den kleinen Dylan, hat tragisch geendet: Seine Mutter hat ihren zehnmonatigen Sohn, der unter einem gefährlichen Geburtsfehler litt, in einem Spital unweit von Alicante (Spanien) mit einem Messer getötet und anschliessend versucht, sich selbst umzubringen. Die Ärzte konnten sie mit einer Notoperation retten. Vorgängig hatte die 40-jährige Schweizerin ihren Sohn aus dem Zürcher Kinderspital entführt, weil sie aus esoterischer Verblendung eine schulmedizinische Behandlung abgelehnte. Dank einer internationalen Fahnung konnten Mutter und Kind in Spanien aufgespürt und in ein Spital gebracht werden, wo die Schweizerin in einem unbeobachteten Moment ihre Tat ausführte.

Wie lässt sich eine solche Handlungsweise erklären? Replizieren wir ganz nüchtern, Schritt für Schritt: Der kleine Dylan hat einen Wasserkopf. Die körperliche Fehlfunktion ist medizinisch einwandfrei erforscht und dokumentiert. Das Nervenwasser zirkuliert bei Dylan nicht richtig zwischen Hirn und Rückenmark, es sammelt sich im Kopf an. Die Verformung macht die Krankheit sicht- und nachvollziehbar. Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass das Wasser im Kopf das Hirn allmählich «erdrückt». Das Nervenwasser muss abgeführt werden. Das geht nur mit einem chirurgischen Eingriff und medizinischer Betreuung.

Jeder Primarschüler versteht das Phänomen. Radikale esoterische und alternativmedizinische Kreise weigern sich aber standhaft, die Logik des Denkens in spirituellen und medizinischen Fragen zu anerkennen. Für sie ist der esoterische Glaube – oder eben Aberglaube –- die einzige Instanz, die zählt. In ihr sind logisches Denken und Ratio nicht vorgesehen. Vernunft ebenso wenig.

Die radikalen Esoteriker, die oft Veganer sind – so auch die Mutter von Dylan –, definieren und interpretieren die Welt von ihrer spirituellen Ideologie aus, die in ihren Augen nach übersinnlichen Kriterien funktioniert. Die grobstoffliche Realität ist nur der Träger der spirituellen Matrix. Das Primat der feinstofflichen Realität über die reale Welt hat aber fatale Folgen. Sie führt zu Realitätsverlust. Nicht selten auch zu Abspaltungen und psychischen Auffälligkeiten. Nur so ist die Entführung zu erklären. In ihrem spirituellen Wahn wird die Mutter zusehen, wie Dylan leiden und vielleicht bald sterben wird. Es sei denn, sie wacht rechtzeitig auf. Momentan glaubt sie noch, dass ihr Sohn mithilfe alternativmedizinischer und spiritueller Therapien genesen wird.

Die Krankheit als Chance

Das esoterische Weltbild besagt nämlich, dass Krankheiten nicht körperliche Ursachen haben, sondern die Folge einer spirituellen Blockade sind. Esoteriker verstehen Krankheiten als Chance, die den Menschen auf übersinnliche Defizite aufmerksam macht. Deshalb gibt es für sie nur eine «Therapie»: Das spirituelle Gleichgewicht muss wieder hergestellt werden, damit Patienten genesen. Esoteriker sind also überzeugt, dass die spirituelle Welt die grobstoffliche Wirklichkeit steuert.

Die Schulmedizin ist in ihren Augen eine Todesmaschinerie, die mit todbringenden Pharmaprodukten und Skalpellen die Patienten reihenweise ins Jenseits befördert. Es gibt esoterische Meinungsführer, die erklären, Schulmedizin und Pharma hätten mehr Menschen auf dem Gewissen als das Dritte Reich beim Holocaust. Dylans Mutter lässt wahrscheinlich auch dann nicht von ihrem Irrglauben ab, wenn ihr Sohn pausenlos schreit vor Schmerzen. Diese werden als Ausdruck der Heilung interpretiert.

Jährlich sterben in der Schweiz viele Menschen, weil sie dieser alternativmedizinischen Ideologie anhängen. Opfer sind vor allem Krebspatienten, die sich Heilern anvertrauen und schulmedizinische Therapien verweigern. Die Gefahr des Missbrauchs steigt weiter, denn die Zahl der Heiler wächst laufend. Ihre Zunft umfasst in der Schweiz bereits Tausende. Die meisten schicken schwerkranke Klienten zwar zum Arzt, doch viele eben nicht.
Schuld am Schicksal des kleinen Dylan ist nicht nur seine Mutter, Mitschuld tragen auch radikale Esoteriker, die die alternativmedizinischen Ideen propagieren und im öffentlichen Bewusstsein verankern.


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