Die christlichen Kirchen stecken in einer Identitätskrise. Keine zehn Prozent der Bevölkerung besuchen mehr regelmässig einen Gottesdienst, nicht einmal mehr die Hälfte der Schweizer glaubt an einen personalen Gott, wie ihn der christliche Glaube darstellt. Die Religionsforscher sind sich weitgehend einig, dass die Verweltlichung ungebremst fortschreitet. David Voas, einer der bekanntesten Religionssoziologen, geht davon aus, dass institutionelle Religiosität zunächst von einer «unscharfen Religiosität» abgelöst wird und schliesslich in die Religionslosigkeit mündet.
Die modernen Kirchen sind die Konsumtempel der kapitalistischen Warenwelt, die schon fast spirituellen Charakter hat. Das Internet bietet Heimat, auch eine geistige. Man kann es auf den Nenner bringen: Der christliche Glaube will nicht mehr zum modernen Leben passen, das geprägt ist von Wissenschaft, Technik und Materialismus.
Einen ähnlichen Bedeutungsverlust erlitt in den letzten Jahren die Bibel – und somit auch die christliche Heilslehre. Sie strahlt für durchschnittliche Gläubige die Atmosphäre der Zeit vor 2000 Jahren aus. Mit den Grundthemen Schuld, Strafe und Sühne können sie nichts anfangen. Selbst der Himmel hat an Glanz verloren. Die Hölle brauchen wir schon gar nicht, die Klimaerwärmung erleben wir bereits auf der Erde. Das Leben im Diesseits ist schwer genug, da kann ihnen die Erbsünde gestohlen bleiben.
Eine Trendwende ist im 21. Jahrhundert nicht zu erwarten. Dies vor allem aus zwei Gründen: Erstens basieren moderne Gesellschaften nicht mehr auf dem Fundament kirchlicher Traditionen und religiöser Werte. Die aufgeklärte Welt gibt sich lieber den Anschein, sich an der Idee der Menschenrechte und allgemeinen politischen Entwicklungen zu orientieren.
Zweitens schreitet die Individualisierung religiöser Bedürfnisse voran und entfremdet die Menschen weiter von den Kirchen. Gottesdienste mit ihren starren Abläufen wirken für viele verstaubt und langweilig, weshalb der säkularisierte Glaube zunehmend erlebnis- und eventorientierte Formen annimmt. Diese basieren vornehmlich auf eigenen Erfahrungen. Konzerte, Vereins- und Sportanlässe vermitteln nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl, sie lassen sich auch als verweltlichte spirituelle Rituale begreifen. So macht der religiöse Pluralismus den christlichen Grosskirchen das spirituelle Monopol streitig, und die Kirchen stehen vor der Situation, sich mit einem Bedeutungsverlust historischen Ausmasses abfinden zu müssen.
Komische Fragen
Für Katholiken wie Protestanten ist besonders schmerzhaft, dass sie vor allem die Jugend aus dem Gesichtsfeld verlieren. Heute erheben grosse Teile der Jungen Anspruch auf persönliches und meist schnelles Glück. In ihrer Konsummentalität wollen sie nicht fürs Jenseits investieren. Hoffen und Glauben, wie es die christliche Heilslehre verlangt, entsprechen nicht ihrer Mentalität. Sie haben genug mit der Gegenwart zu kämpfen und suchen ihre Lebensperspektiven in der Individualität und Selbstverwirklichung. Da bleibt wenig Raum für Transzendentales oder Übersinnliches.
Die erfolgreiche Schweizer Snowboarderin Patrizia Kummer brachte es in einem Zeitungsinterview auf den Punkt. Als sie gefragt wurde, wie sie es mit dem Glauben halte, antwortete sie: «Sie stellen aber komische Fragen.»
Die jungen Generationen entscheiden aber weitgehend über das Schicksal der Kirchen. Wollen diese bei den jungen Leuten wieder punkten, müssen sie sich ihren Bedürfnissen anpassen und in PR- und Marketing-Kategorien denken. Religion müsste eine Marke werden, bei der die jungen Leute auf Facebook ein «like it» setzen könnten. Doch wie wird eine Kirche cool und sexy? Das ist ein Widerspruch in sich. Kirchen können nicht zur Eventagentur mutieren. Dazu steht ihnen die Bibel im Weg. Und das Personal. Geistliche sind oft vergeistigte Personen, die in der Kirche nicht den jovialen Animator geben können. Und wohl auch nicht wollen. Selbst wenn: Sie können aus dem biblischen Adam keinen Justin Bieber oder DJ machen und Eva nicht als Britney Spears oder Miley Cyrus auftreten lassen.
Die kollektive Abkehr von den Kirchen heisst allerdings nicht, dass die religiösen Bedürfnisse verschwunden sind. Vielmehr bewirken Säkularisierung und Individualisierung in den westlichen Ländern ein religiöses Vakuum. Für viele Abtrünnige der Kirchen war Gott nie tot, er hatte nur das christliche Gesicht verloren. Sie flüchteten in eine fernöstliche Spiritualität oder in die Esoterik, die sich als Ersatzreligion anerbot. Laut der Studie «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» glauben immerhin schon zehn Prozent der Schweizer an alternative Formen der Spiritualität, also an esoterische Phänomene. Zwei- bis dreimal so viele sind von esoterischem Gedankengut infiziert. Somit überflügelt die heterogene Gruppe Esoterikgläubiger zahlenmässig die aktiven gläubigen Katholiken bei weitem.
Der Trend zur Esoterik entspricht auch einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, weil sie Spiritualität der wirtschaftlichen Dynamik von Angebot und Nachfrage unterwirft. Spiritualität wird so zum Konsumgut transformiert und tritt als Geflecht aus übersinnlichen Versatzstücken in Erscheinung, aus dem sich jeder seinen Glauben nach eigenen Sehnsüchten und Wünschen konstruieren kann. Esoterik ist also keine Religion im Sinn einer Rückbindung, sondern eine spirituelle Plastikwelt. Wer sich vom persönlichen Gott verabschiedet, kann den eigenen Himmel mit beliebig vielen Göttern füllen. Götter, die nicht fordern, sondern als himmlische Dienstboten auftreten.
Esoterik entspricht dem Trend nach Privatisierung des Religiösen, ihre Flexibilität erweist sich als wirtschaftlicher Vorteil. Dieser Markt setzt in Europa denn auch mehrere Milliarden Euro um und wächst aufgrund seiner schieren Grösse und Wendigkeit freudig weiter. Doch die Pseudoreligion vollführt ein riskantes geistiges Experiment: Übersinnliche Heilsvorstellungen fördern den Aberglauben und das magische Denken. Wer überfordert ist, fordert einfache Antworten. Und gegen die Macht des Marktes sind rationale Argumente eine schwache Kraft.
Dennoch wäre es falsch, das Ende des religiösen Zeitalters auszurufen. Die Sehnsucht nach spirituellen und übersinnlichen Phänomenen ist tief in unserem Bewusstsein verankert und scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Carl Gustav Jung war überzeugt, dass das menschliche Wesen von Natur aus religiös ist. Der Schweizer Bischof Felix Gmür sagte sogar in einem Interview, der Mensch müsse glauben, um zu leben. Damit hat er zweifellos recht. Wenn er aber denkt, dass wir im christlichen Sinn glauben müssen, hat er die Austrittsstatistiken nicht studiert.
Der Glaube scheint evolutionär bedingt zu sein. Er entstand in der Vorzeit, weil er Vorteile bei der Bewältigung des Lebens brachte. Manche Neurologen verorten den Glauben im Hirn und weisen religiöse Aktivitäten mit Tomografen im Schläfenlappen nach. Glaube ist also Physiologie, ein biochemisch erklärbarer und nachvollziehbarer Vorgang im Hirn. Genetiker entdeckten weiter, dass Gläubige häufig eine bestimmte Variante des VMAT2-Gens auf Chromosom 10 aufweisen. Dieses Gen ist für die Regulierung von Stimmungen und Emotionen zuständig.
Manche Forscher sprechen deshalb von einem «Gottes-Modul» im Hirn und einem «Gottes-Gen» in der menschlichen DNA. Die Fähigkeit, religiös zu glauben, ist also ein menschliches Merkmal schlechthin.
Das Gottes-Gen
Der evolutionäre Vorteil lag früher also darin, dass der gemeinsame Glaube an eine höhere Macht den inneren Zusammenhalt einer Gemeinschaft stärkte. Dies begünstigte die Entwicklung in allen Lebensbereichen bis hin zum Aufbau gesellschaftlicher Strukturen und zur Herstellung von Waffen.
Solche Prägungen lassen sich nicht über Nacht auslöschen. Deshalb lösen sich die spirituellen Bedürfnisse nicht einfach auf. Wer sich von der Kirche abwendet, wird nicht automatisch areligiös. Gott ist nicht tot, er wird nur entmystifiziert. Spirituelle Bedürfnisse werden sich aber von metaphysischen und transzendentalen Inhalten abkoppeln. Menschen mit dem Gottes-Gen brauchen jedoch immer etwas, das über das diesseitige Leben hinausweist.
Die christlichen Kirchen werden in Zukunft vor allem wegen ihrer Präsenz im öffentlichen Raum im Bewusstsein breiter Kreise bleiben. Kirchen prägen in vielen Dörfern und Städten das Ortsbild und rufen uns das religiöse Erbe in Erinnerung. Geburt, Heirat und Tod verbinden wir auch in Zukunft mit religiösen Attributen. Öffentliche Trauer nach Katastrophen wird weiterhin in Kirchen zelebriert. Die christlichen Symbole und Gleichnisse, die eine starke suggestive Kraft entwickeln, sind allgegenwärtig und prägen unser Denken – losgelöst vom spirituellen Ursprung.
Das beste Medium der Kirchen werden aber in Zukunft Ostern und Weihnachten sein. Die Kommerzialisierung der christlichen Feste wird dafür sorgen, dass die Kinder noch lange die Geschichte von der Geburt Jesu im Stall erzählt bekommen und Geschenke einfordern. Kommerzialisierte Spiritualität ist kaum im Sinne von Jesus, aber eine Überlebenschance für die Kirchen.
Der christliche Glaube hat unsere Geschichte geprägt und ist Teil der Menschheitskultur. Das wird so bleiben, weil trotz der Globalisierung keine neue Weltreligion mehr entsteht. Für die christlichen Kirchen bedeutet dies, dass sie die Repräsentanten der kulturhistorisch wichtigsten Glaubenslehre bleiben werden. Museen, die dereinst in historisch wertvollen Kirchen eingerichtet werden, zeugen dann von den mehr oder weniger glanzvollen Epochen der christlichen Kirchen.