
Christina Krüsi arbeitet inzwischen als Künstlerin und engagiert sich gegen Kindesmissbrauch. Foto: Sophie Stieger
Die Winterthurer Künstlerin Christina Krüsi ist als kleines Mädchen von freikirchlichen Missionaren im Urwald von Bolivien sexuell missbraucht worden. Ihre Eltern hatten für die Missionswerke Wycliff und SIL im Dschungel die Bibel übersetzt.
Wie reagieren fromme Eltern auf die erschütternden Enthüllungen? Martin und Dorothee Krüsi lebten als freikirchliche Missionare für die Idee, den bolivianischen Indianern das Wort Gottes zu bringen. Es war ihr Lebenswerk. Dann das. Ihre frommen Freunde, mit denen sie gebetet und die Bibel übersetzt hatten, entpuppten sich als pädophile Peiniger, die ihre Tochter jahrelang schändeten.
Die Eltern fragten sich: Wie konnte Gott dies zulassen, wieso hat er unsere Tochter nicht beschützt? Auf der Homepage von Wycliff Schweiz erklären sich Martin und Dorothee Krüsi. Ihre Texte machen sprachlos. Christinas Eltern thematisieren ihre Ängste, Zweifel und moralischen Anfechtungen. Von ihrer Tochter sprechen sie kaum, eine Entschuldigung sucht man vergebens. Ihre hauptsächliche Sorge: Wie können wir wieder zum Glauben an Gott finden? Sie schreiben über ihre seelischen Nöte, als seien sie die Opfer, nicht ihre Tochter.
So schreibt die Mutter: «Weshalb hat Gott unsere Tochter nicht bewahrt? So viele Freunde in der Heimat hatten treu für uns gebetet. (...) Eines Tages wurde mir mit Schrecken bewusst, dass ich, wenn ich weiter an Gott zweifelte, bald mit leeren Händen, ohne Hoffnung und ohne jeden Lebenssinn dastehen würde.» Sie erinnerte sich an einen Psalm, in dem steht, Gott sei «allezeit meines Herzens Trost und mein Teil». Deshalb habe sie sich mit ihrem Mann entschieden, Gott weiterhin zu vertrauen.
Vater Martin schreibt: «Meine grösste Krise war die geistliche.» Durch Gottes Gnade habe er wieder zum Herrn gefunden.
Die zentralen Fragen beantwortet das Ehepaar Krüsi nicht: Wo war Gottes Gnade, als seine Tochter von seinen Freunden geschändet worden war? Wie war es möglich, dass ihre Tochter quasi unter ihren Augen jahrelang missbraucht und gepeinigt werden konnte, ohne dass sie es bemerkten? Die Anzeichen bei Christina waren jedenfalls überdeutlich.
Die blinde Flucht in den Glauben lässt sich bei frommen Gläubigen oft beobachten. In ihrer religiösen Verblendung sehen sie nur das eigene Seelenheil. So entschieden sich die Eltern von Christina Krüsi für Gott – und gegen ihre geschändete Tochter, die sie im Stich liessen.
«Ich bin kein Opfer mehr – missbraucht im Namen Gottes»: Der Dok-Film über Christina Krüsi auf SRF.
Hier noch ein Artikel, der die Geschichte von Christina Krüsi nachzeichnet:
Die Kindheit der Winterthurer Künstlerin Christina Krüsi war ein Albtraum im Paradies. In einem idyllischen Dorf an einem kleinen See im bolivianischen Urwald ging sie durch die Hölle. Sie war sechs Jahre jung, als es begann. Mehrere christliche Missionare missbrauchten sie sexuell, schändeten das Mädchen immer wieder. Auf der öffentlichen Toilette, nach der Schule und dem Klavierunterricht. Fast unter den Augen der Eltern. Sechs Jahre lang litt Christina Qualen.
Den Horror im Paradies hat die inzwischen 46-jährige Christina Krüsi im Buch «Das Paradies war meine Hölle» dokumentiert. Sie hoffte, sich das Trauma von der Seele schreiben zu können. Die Verarbeitung gelang ihr gut, viele Wunden begannen sich zu schliessen. Doch nun holt sie die Vergangenheit wieder ein. Denn die freikirchlichen Missionswerke Wycliff und SIL, für die Christinas Eltern im bolivianischen Indianerdorf Tumi Chucua («Insel der Palmen») die Bibel übersetzten, tun sich schwer mit der Aufarbeitung. Seit Jahren ziehen sich die Untersuchungen hin, die Opfer – neben Christina Krüsi schändeten die pädophilen Missionare 16 weitere Mädchen und Knaben – wurden immer wieder vertröstet.
Unterstützung bekam Christina Krüsi von den Missionswerken kaum, sie musste sich selbst aus dem Sumpf ziehen. Denn sie fühlte sich auch von ihren frommen Eltern im Stich gelassen. Diese tun sich schwer damit, dass ihre Tochter ihr Lebenswerk besudelt und die Missionswerke im Buch anprangert.
Dass Christina Krüsi das Trauma wieder einholt, hat mit einem Kindsmord zu tun. Als sie zehn Jahre alt war, wurden sie und andere Kinder nach dem Eindunkeln von einem Missionar auf den Friedhof gelotst. Dort standen Männer um einen reglosen Kinderkörper. Christina wurde aufgefordert, Blut aus einer Schale zu trinken. Nun gehöre sie zu den Auserwählten, hatten ihr die Männer gesagt. Der Schock sass nach den jahrelangen Missbräuchen durch die gleichen Männer noch tiefer.
Film im Schweizer Fernsehen
Dem Pfad zum Friedhof ist Christina Krüsi kürzlich wieder gefolgt, gefilmt von einem Team des Schweizer Fernsehens. Doch es ist nicht primär die Rückkehr in den Urwald, die Krüsi zusetzt, sondern die Reaktion des Kinderschutzbeauftragten von SIL, Keith Robinson. Im Film sagt dieser aus, praktisch alle Täter würden die Verbrechen abstreiten, «von Anfang bis Ende». Oder sie seien inzwischen verstorben. SIL habe auch nicht die Möglichkeit, ihnen den Prozess zu machen. «Wenn es tatsächlich passiert ist, wäre es total grauenvoll», sagt der Beauftragte weiter. Sie hätten keine übereinstimmenden Aussagen, dass es wirklich geschehen sei.
Missionswerke blocken ab
Diese und weitere Aussagen werfen die Winterthurerin und die andern Opfer bei der Verarbeitung wieder in die Kindheit zurück. Christina Krüsi ist aufgewühlt. «Vier von uns haben klare Erinnerungen an das tote Kind», erklärt sie.
Das Erlebnis beschäftigt sie immer noch intensiv. Sie hatte 20 Jahre gebraucht, bis sie fähig war, über die sexuellen Missbräuche zu sprechen. Aus Angst, man würde ihr nicht glauben. Doch die Veröffentlichung des Buches hat den Damm gebrochen. Nun will Christina Krüsi auch wissen, was damals im Urwald mit dem toten Kind passiert ist. Ihre Anfragen und Vorstösse bei den Missionswerken verhallten aber weitgehend ergebnislos, ihre Mails blieben oft unbeantwortet. SIL und Wycliff haben zwar die systematischen Übergriffe auf die 17 Kinder untersucht und bestätigt, beim Kindsmord blocken sie aber ab, wie die Reaktion des Kinderschutzbeauftragten Keith Robinson im Dokumentarfilm zeigt.
Justiz soll ermitteln
«Er glaubt mir nicht und macht mich erneut zum Opfer», erzählt Christina Krüsi. «Das lasse ich mir nicht mehr gefallen.» Sie hatte geglaubt, den Albtraum überwunden zu haben, doch nun reissen ausgerechnet die Missionswerke die Wunden wieder auf, die für ihr jahrelanges Martyrium mitverantwortlich sind.
Krüsi nahm sich einen Anwalt und traf sich kürzlich mit SIL-Verantwortlichen in Amsterdam. Zwar zeige das Missionswerk Bereitschaft, Untersuchungen zum Kindsmord anzustellen, doch das Vorgehen sei ernüchternd. Falls es sich um einen Mord handle, sei es ein Fall für die bolivianische Justiz, sagten ihr die SIL-Vertreter. Sie seien nicht zuständig für den allfälligen Mord, sondern höchstens dafür, dass die Kinder dieses Verbrechen mitansehen mussten.
«Eine sehr christliche Einstellung», sagt Krüsi lakonisch. «Wir wurden nicht wirklich entschädigt, wir mussten sogar unterschreiben, keine Forderungen an SIL und Wycliff zu stellen, und nun sollen wir auch noch dafür sorgen, dass dieser Kindsmord untersucht wird? Die Missionswerke haben doch alle Unterlagen. Sie müssen uns wenigstens Anwälte zur Verfügung stellen, die den Fall vorantreiben und Anzeigen einreichen.»
Wycliff und SIL haben bisher keine Genugtuung oder Entschädigung bezahlt. Es wäre dringend, denn fast alle Opfer leiden heute noch unter den traumatischen Erlebnissen, bringen ihr Leben nicht auf die Reihe oder kämpfen nach wie vor mit psychischen Problemen. Deshalb fühlt sich Krüsi für ihre Leidensgenossen mitverantwortlich und kämpft auch für ihre Interessen. Zu schaffen macht ihr auch, dass ihre Eltern sie in ihrem Kampf nicht unterstützen und nicht hinter ihr stehen. Ihre Tochter gab ihnen das Buchmanuskript vor der Veröffentlichung zu lesen und akzeptierte auch die meisten Änderungsvorschläge. Trotzdem taten sie sich schwer damit, dass ihre Tochter mit der Geschichte an die Öffentlichkeit ging.
Eltern distanzieren sich
Die Eltern weigerten sich, mit Journalisten über die Vorfälle in Bolivien zu sprechen. Ihre Gründe legten sie in einem Brief dar. Aus diesem Schreiben liest Christina Krüsi im Film Passagen vor. Diese lassen den Schluss zu, dass die Eltern gewisse Aussagen ihrer Tochter anzweifeln. Im Film gerät Christina Krüsi denn auch darüber in Rage, dass ihre Eltern nicht zu ihr stehen.
Seit dem Besuch im Dschungeldorf vermutet Krüsi, dass die Täter die sexuellen Übergriffe damals nicht restlos geheim halten konnten und etliche Mitwisser hatten, die das Verbrechen totschwiegen. Gespräche mit Einheimischen, die in jener Zeit in Tumi Chucua lebten, machten es ihr deutlich.
Der Film endet mit dem Kommentar: «Dass die Täter nie zur Rechenschaft und Verantwortung gezogen wurden, bleibt ein Skandal und wirft ein schlechtes Licht auf Wycliff und SIL.»