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Channel: Hugo Stamm
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Martyrium bei den Missionaren im Dschungel

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Wurde als «auserwähltes Mädchen» bedroht und missbraucht: Christina Krüsi. Bild: Sophie Stieger

Wurde als «auserwähltes Mädchen» bedroht und missbraucht: Christina Krüsi. Bild: Sophie Stieger

Freikirchlich Gläubige werden unablässig mit einer stereotypen Botschaft berieselt: Wer Jesus in sein Herz aufnimmt oder sich vor der Gemeinde zum christlichen Gott bekennt, steht unter seinem besonderen Schutz. Im «Fenster zum Sonntag» auf SRF 1 treten immer wieder Gläubige auf, die von ihren Erlebnissen mit Gott oder Jesus erzählen. Diese haben ihnen Botschaften übermittelt, die ihnen halfen, eine Krankheit zu überwinden, ein Geschäft erfolgreich aufzubauen, in der Missionsarbeit gefährliche Situationen heil zu überstehen usw. Auch in der Zeitschrift idea/spektrum kommen immer wieder Leser zu Wort, die berichten, wie Jesus ihnen in Krisen geholfen und sie beschützt habe. Auch die freikirchlichen Prediger und Pastoren berichten in ihren Predigten gern, wie Gott und Jesus direkt ins Leben der (Recht-)Gläubigen wirkten. Die Botschaft ist ebenso unmissverständlich wie ziemlich weltlich: Wer an den (richtigen) Gott glaubt, geniesst seine besondere Aufmerksamkeit und wird von ihm durch die Stürme des Lebens geführt und begleitet.

Wer aber die Geschichte von Christina Krüsi liest, die sie im Buch «Das Paradies war meine Hölle» verarbeitet hat, fragt sich, wo denn der (freikirchliche) Gott war, als die Missionare reihenweise über sie hergefallen sind. Hier der Artikel über eine Begegnung mit Christina Krüsi:

Ihr herzhaftes Lachen hallt durch die ganze Wohnung. Christina Krüsi sitzt zufrieden in ihrer hellen Stube in Winterthur, umgeben von ihren selbst gemalten Bildern, als seien die traumatischen Kindheitserlebnisse ein Kapitel aus vergangenen Tagen. Doch nun holen sie die Erinnerungen aus Bolivien wieder ein. Immer wieder muss sie Medienleuten ihre Geschichte erzählen. Warum tut sie sich das an?

Warum nimmt sie die Leser mit nach Tumi Chucua zu den Tacana-Indianern in den tiefen Dschungel von Bolivien, wo sie als kleines Mädchen von christlichen Missionaren «auserwählt wurde»? Jahrzehntelang hat sie ihre Geschichte verdrängt aus Angst, niemand würde ihr glauben. Jahrzehntelang war sie nie richtig angekommen im Leben. Wer würde es schon für möglich halten, dass in der heilen Welt einer entlegenen Missionsstation gleich mehrere Gottesmänner über sie und andere Mädchen und Jungen herfallen könnten?

Die Aufarbeitung begann vor elf Jahren. «Beim Joggen verlor ich plötzlich meine Stimme», erzählt sie. «Es war ein Schock, doch ich wusste, dass der Zusammenbruch mit meiner Kindheit zu tun hatte.» Unter seelischen Krämpfen holte sie sich ihre Stimme wieder zurück. Sie wusste: Sie braucht sie, um nicht länger Opfer zu sein. Um die Vergangenheit abzuschütteln und das Unrecht, das man ihr und den andern Kindern angetan hatte, in die Welt hinauszutragen. Damit sich das, was die frommen Täter ihr auf der «Insel der Palmen» (Tumi Chucua) angetan hatten, nicht mehr wiederholen würde.

Im Buch beginnt die Reise durch das Leben der Christina Krüsi im Paradies. Im bolivianischen Urwald erlebt sie eine idyllische Kindheit. In einem Indianerdorf fernab der Zivilisation, wo ihr Vater die Bibel in die Sprache der Chiquitano-Indianer übersetzt, blüht das temperamentvolle Mädchen auf und tollt mit den Indianerkindern herum. «Es waren für uns weisse Kinder wirklich paradiesische Lebensumstände», sagt sie.

Hölle an Halloween

An Halloween – Christina ist sechs Jahre alt – bricht für sie aber über Nacht die Hölle los. Sie freut sich auf das Fest mit den gruseligen Gespenstern und Masken, das die amerikanischen Missionare von Wycliff, einer freikirchlichen Organisation, welche die Bibel in Minderheitssprachen übersetzt, im Missionarscamp feiern wollten. Auch wenn es nicht so recht ins christlich-fromme Umfeld passt. Christina muss wie die andern Kinder nachts einem Seil folgend einen Parcours durch den dunklen Wald absolvieren. Als «auserwähltes Mädchen» wird sie in einen Hinterhalt gelockt und rutscht in ein Loch. Dort wird sie Opfer eines sexuellen Übergriffs.
Das ist der Beginn einer Leidenszeit, für die der Begriff Hölle eine harmlose Umschreibung ist. Jahrelang wird sie von mehreren amerikanischen Missionaren verfolgt, genötigt und sexuell missbraucht. Einmal wird sie Zeugin eines rituellen Kindsmordes. Niemand merkt es: weder die Eltern, die Lehrer – einer beteiligt sich gar an den Übergriffen – noch die Missionsleitung. «Die pädophilen Täter drohten mir: ‹Wenn du den Mund nicht hältst, können deine Eltern die Bibel nicht übersetzen. Dann kommen alle Indianer in die Hölle, und du bist schuld›», erzählt sie. So schweigt das Mädchen eisern und leidet. Christina behält das Geheimnis auch später für sich, weil sie überzeugt ist: Mir würde niemand glauben. Mit einem Suizidversuch will die Zehnjährige dem Leiden ein Ende bereiten, im letzten Moment wird sie gerettet.

Missbrauch bestätigt

Christina Krüsi entschuldigt die Täter aus religiösen Gründen, verbannt die Erlebnisse in die Abgründe ihrer Seele. Bis eben 2002, als sie im Alter von 34 Jahren ihre Sprache verlor. «Ich war längst wieder in der Schweiz und wusste, dass ich endlich über meine Kindheitserlebnisse reden musste, um mich aus meinem inneren Gefängnis zu befreien», sagt sie.

Krüsi spricht mit ihren Eltern, fühlt sich aber nicht verstanden. Solche Schandtaten im Umfeld einer freikirchlich geprägten Missionsstation und quasi unter ihren Augen: undenkbar. Das Verhältnis zu den Eltern ist massiv erschüttert. Die Täter schienen recht zu haben, dass ihr niemand glauben würde. Dann öffnet sie sich vorsichtig ihrer Freundin Gudrun Ruttkowski, mit der sie später ihre Lebensgeschichte aufschreibt. Als Mal für ihr Leiden kann sie die beiden Schnitte auf der Innenseite ihres Knies vorzeigen, die die Täter ihr und anderen Kindern als Zeichen des «Auserwähltseins» zugefügt hatten.

Ein Jahr später dann die «Erlösung». Krüsi bekommt einen Brief von Wycliff Amerika. Zwei andere Opfer hatten sich gemeldet und auch Christinas Namen genannt. Bald wird das Ausmass des systematischen Verbrechens klar. 17 Opfer schildern detailliert die Übergriffe und nennen Namen der Täter.

«Wir sind zutiefst betrübt»

2004 lädt Wycliff die Opfer zu einem Treffen in die USA ein. Bei den emotionellen Begegnungen wird das monströse Ausmass der sexuellen Ausbeutung erst richtig klar. Für Christina Krüsi ein erster Schritt zur Befreiung. Doch dann stockt die Aufarbeitung. Wycliff erstellt zwar Berichte und übergibt sie den Behörden, doch es passiert nichts. Alles verjährt, vernimmt Krüsi. Die Täter kommen ungeschoren davon, einer arbeitet weiterhin als Lehrer.

Krüsi verarbeitet die seelischen Wunden mit dem Malen von grossen, farblich kräftigen Bildern und dem Schreiben von Tagebüchern. Sie ist inzwischen geschieden und hat Probleme, sich und ihre beiden Söhne, die das Gymnasium besuchen, finanziell über die Runden zu bringen. Sie klopft bei Wycliff an und bekommt etwa zwei Jahre lang einen sehr kleinen monatlichen Beitrag, um ihr eigenes Studium mitzufinanzieren. Im Gegenzug muss sie unterschreiben, keine Forderungen mehr zu stellen. Das findet sie heute mehr als schäbig.

«Wir sind zutiefst betrübt darüber, dass Christina Krüsi und ihrer Familie so viel Ungerechtigkeit und Leid widerfahren ist», erklärt Hannes Wiesmann, Leiter von Wycliff Schweiz. Der Fall habe zur Sensibilisierung und zu neuen Richtlinien geführt. Neue Mitarbeiter müssen seither eine Onlineschulung durchlaufen, Kinder würden mit einem Video aufgeklärt und sensibilisiert. Ausserdem werden seither mutmassliche Täter im Einsatz- und Herkunftsland angezeigt. Christinas Eltern glauben ihrer Tochter heute. «Sie verstehen aber immer noch nicht, dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin.»

Kinderbuch zur Aufklärung

Wie konnte es zu den jahrelangen systematischen Übergriffen durch mehrere Mitarbeiter der Missionsstation kommen? Niemand weiss es. Auch Hannes Wiesmann von Wycliff nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass sich in der Missionsstation mit den rund 300 Mitarbeitern ein Ring von Pädophilen gefunden hat, angeführt vom Schulleiter.

Die Situation blieb für Christina Krüsi, die bis vor kurzem als Schulleiterin arbeitete und nun als Künstlerin und Konfliktmanagerin tätig ist, unerträglich. Weil sie die Täter nicht belangen konnte, wollte sie wenigstens mit dem Buch die Öffentlichkeit aufklären. Ausserdem gründete sie eine Stiftung, um Projekte zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit zu finanzieren. Das erste Projekt war ein Kinderbuch mit dem Titel «Chrigi und Nanama – Dschungelfreunde», das nächste ist die Verfilmung des Buches.

Beim Abschied an ihrer Wohnungstür wird noch einmal klar, dass Christina Krüsi nicht nur ihre Stimme wiedergefunden hat, sondern auch ihr kräftiges, fröhliches Lachen.


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