Quantcast
Channel: Hugo Stamm
Viewing all articles
Browse latest Browse all 51

Beim Geld hört die Frömmigkeit auf

$
0
0
Eine Hochzeitsprozession in Varanasi. (Foto: Keystone/Rajesh Kumar Singh)

Eine Hochzeitsprozession in Varanasi. (Foto: Keystone/Rajesh Kumar Singh)

Die Volksfrömmigkeit hier in Indien ist beeindruckend. Der Glaube ist noch tief in der Volksseele verankert, Säkularisierungstendenzen sind noch wenige auszumachen. Auch reiche und gebildete Inder gehen regelmässig in die Tempel und nehmen an religiösen Ritualen teil.

Hier hat der Glaube noch eine ungleich grössere Bedeutung als in westlichen Ländern. Die Armut spielt sicher eine Rolle, dass sich die spirituellen Bedürfnisse weiterhin ungebrochen manifestieren, aber nicht nur. Ziviles und religiöses Leben sind derart ineinander verzahnt, dass eine Säkularisierung nur langsam fortschreitet.

Ist das überhauptet wünschenswert oder sinnvoll? Aufklärung und geistige Emanzipation würden sicher helfen, den Fortschritt in verschiedenen Lebensbereichen zu fördern. Die Überwindung des Kastensystems, das letztlich religiöse Wurzeln hat, wäre dringend notwendig. Vor dem Gesetz sind zwar auch in Indien alle Menschen gleich, doch im Alltag funktioniert das Unwesen nach wie vor.

Ein weiteres Beispiel erleben wir hier in Varanasi. Nach dem Vollmond-Fest, das riesige Pilgerströme an die Ghats zog, brach mit dem Dezember der Heirats-Monat an. Täglich pilgern Dutzende Paare mit ihren Familien an den Ganges, um sich von einem Priester mit dem heiligen Wasser segnen zu lassen. Die reicheren Inder engagieren dafür Musikgruppen, die mit Trommeln und Flöten das Ritual musikalisch umrahmen. Ein lautes, fröhliches und farbenfrohes Fest, sind doch die Frauen in reich bestickte Saris gekleidet.

Nur: Die Bräute sieht man selten lachen. Das Brautpaar wechselt auch kaum ein Wort. Wenn man die Umstände kennt, überrascht es nicht. Hochzeiten werden heute noch mehrheitlich arrangiert. Die Braut muss ihre Familie und Freundinnen verlassen und oft in ein fernes Dorf oder eine fremde Stadt zur Familie ihres Mannes ziehen. Dort ist sie eine Fremde, kennt weder Ehemann noch seine Familie näher. Und die Schwiegermütter freuen sich, endlich eine Frau im Haus zu haben, die ihr die schwersten Arbeiten abnimmt. Ausserdem ist der Vater der Braut auch nicht erfreut über die Hochzeit, muss er doch ein halbes Vermögen als Mitgift abliefern. Der schönste Tag im Leben ist für viele Frauen eine kleine Katastrophe.

Die Heirat ist zwar primär ein zivilies Ritual, doch spielt der Glaube durch die enge Verzahnung eine wichtige Rolle. Durch eine Säkularisierung liessen sich die Heiratsbräuche zivilisieren, viel Leid könnte verhindert werden.

So schön die Zeremonien am Ganges sind, so schonungslos offenbaren sie auch die indische Mentalität. Wer die Rituale über längere Zeit beobachtet, bekommt ein schales Gefühl. Immer wieder kommt es mit den Priestern, die am Laufband Paare trauen, zu heftigen Diskussionen um das Honorar. Sie verlangen für ein paar Minuten völlig überrissene Preise. Der schöne Tag wird so oft begleitet von lauten Streits.

Nach meinen Beobachtungen liefern manche Priester das Geld Hintermännern ab. Ich bekam den Eindruck, dass eine Priester-Mafia den Heiratsmarkt bei den Mainghats beherrscht und die ahnungslosen Brautpaare abzockt. Sie können ja nicht unverrichteter Dinge abziehen. So viel zur spirituellen Einstellung der Priester.

Kaum ist das heilige dreckige Wasser über dem Brautpaar verspritzt, beginnt das Feilschen von Neuem. Die meisten Hochzeitsgesellschaften möchten das Fest mit einer Bootsfahrt auf dem Ganges krönen. Die Bootsführer sind aber ähnlich durchtrieben wie die Priester, weshalb bald weitere Streits losbrechen.

Doch was wäre Indien ohne Religion, Volksfrömmigkeit und den Glauben? Der Tourismus würde einbrechen. Denn das Alltagsleben wäre ärmer. Ausserdem haben die meisten Sehenswürdigkeiten eine religiösen Hintergrund: Die alten Tempelanlagen, antiken Statuen und Kulturdenkmäler wie Taj Mahal bilden die Hauptattraktionen von Indien. Bei aller berechtigten Kritik am Tourismus: Er ist ein wichtiger Wirtschaftszweig, ohne ihn wäre die Armut noch grösser.

Ärger kommt vor allem hier in Varanasi über den frühen Islam auf. Nach der Eroberung Nordindiens zerstörten die Moslems alle Kulturgüter. Obwohl es eine heilige Stadt war – vielleicht deshalb erst recht –, wurde alles zerstört, was an den Hinduismus erinnerte. Dieses Phänomen zeigt sich auch landesweit. Es ist nicht vorstellbar, welche kulturellen Schätze Indien vorzeigen könnte, wenn die islamischen Eroberer nicht so gnadenlos vorgegangen wären.

Übrigens: Weil uns Varanasi mit all seinen Widersprüchen, bettelnden Sadhus, korrupten Priestern, frommen Pilgern, religiösen Festen und Zeremonien derart fasziniert, haben wir beschlossen, die Reise abzubrechen und 14 Tage hier zu bleiben. Um ein bisschen tiefer eintauchen zu können.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 51