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Channel: Hugo Stamm
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Wenn die Seele aus dem Ganges steigt

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Gläubige beten im Ganges. (Keystone)

Es ist schwierig, sich ein Bild davon zu machen, wohin die Seele nach dem Tod hin soll: Gläubige beten im Ganges. (Keystone)

Ankunft in Varanasi um 20 Uhr. Der Rikschafahrer hält an einer Kreuzung und zeigt auf ein enges Gässchen. «Zwei Kilometer», radebricht er auf Englisch. Durch Pilgerströme schlängeln wir uns vorwärts und sind froh, nur vergleichsweise kleine Rucksäcke tragen zu müssen. Es ist dreckig und stinkt, doch uns umfängt pralles Leben auf engstem Raum.

Plötzlich erschallt ein lautes, kurzes Mantra. Ein Vorbeter schreit es in die engen Gässchen, ein Chor von Männern betet es nach. Es hat einen schaurigen Klang und tönt nicht nach einem Gebet. Aus einer Seitengasse tauchen Gestalten auf, die eine Bahre aus Bambusrohren tragen, gefolgt von rund einem Dutzend Männern.

Die Umrisse der Last lassen auf eine menschliche Gestalt schliessen. Eingewickelt ist sie in goldene und rote Folien. Mit einem Schlag wird uns klar: Wir sind auf dem Weg zum Burning-Ghat, jener heiligen Stätte am Ganges, wo die Leichen verbrennt werden.

Der schaurige Singsang verfolgt uns auf dem Weg zu unserem Guesthouse. Plötzlich steigt Rauch in unsere Nase, und um die nächste Ecke fängt uns die gespenstische Szene ein: Mehrere grosse Feuer lodern in den Nachthimmel, auf einzelnen Scheiterhaufen sind verkohlte Leichen zu erkennen.

Der Trauerzug, der uns begleitet hat, trägt seine Last zum Ufer hinunter und taucht sie mit einer Zeremonie in den Ganges. Anschliessend wickeln die Männer die Leiche aus und hüllen sie in ein weisses Tuch, um sie auf einen Scheiterhaufen zu legen. Bei einer männlichen Leiche ist der älteste Sohn der Zeremonienmeister, bei einer weiblichen der jüngste. Er entzündet am heiligen Feuer einen Busch aus langen Gräsern, umrundet damit fünfmal die Feuerstätte und entzündet sie. Unser Hotel befindet sich ein Steinwurf von diesem archaischen Ort entfernt, wo rund um die Uhr Leichen verbrennt werden.

Der Ganges bei Varanasi ist der vielleicht heiligste Ort der Hindus. Wer hier verbrennt wird, soll aus dem Wiedergeburtszyklus ausbrechen und direkt in den Himmel gelangen. Deshalb ziehen todkranke Menschen oft nach Varanasi, um hier zu sterben. Das Feuer soll sie von den Sünden reinigen, der heilige Ort dient als Lift in die erlösenden Sphären.

Am nächsten Tag erfahren wir, dass es für eine Leiche 280 Kilogramm trockenes Holz braucht. Ein korpulenter Körper benötigt drei Stunden, um zu verbrennen, ein leichter 2,5 Stunden. Nicht verbrannt werden Kinder und Sadhus, die heiligen Mönche. Sie sind schon rein und werden mit einem Stein im Ganges versenkt. Schwangere Frauen und Menschen, die von einer Kobra gebissen worden sind, landen ebenfalls auf dem Grund des Flusses. (Kobragift darf nicht verbrannt werden, doch der Ganges ist voller Schwermetall.) In den Fluss geworfen werden auch Teile der männlichen Brust und der weiblichen Hüfte. Diese Körperteile sollen nicht restlos verbrennen. Flussabwärts waschen sich dann Tausende Pilger im dreckigen heiligen Wasser. (Diese Informationen stammen von unserem Hotelmanager.)

Frauen sieht man auf dem Verbrennungsplatz nicht. Die Hindus glauben, die Seele verlasse nach dem Tod den Körper, tue sich aber schwer damit, seinen ehemaligen Träger zurückzulassen. Würden Angehörige weinen, hätte die Seele erst recht Mühe, sich zu lösen. Da angeblich nur die Männer ihre Gefühle beherrschen können, müssen die Frauen zum Wohl der Seele zu Hause bleiben.

Aus aufgeklärter Warte klingt einiges nach Aberglauben. Die Verbrennung der Leichen war zumindest früher auch eine Hygienemassnahme. Interessant ist hingegen, dass auch der Hinduismus eine Seele kennt. Die Buchreligionen haben den Begriff offensichtlich von älteren Heilslehren übernommen. Heute wissen wir, dass die Seele kein anatomisches Organ ist. Sie sich als spirituelles Organ vorzustellen, fällt nicht leicht.

Noch schwieriger ist es, sich ein Bild davon zu machen, wohin die Seele nach dem Tod gehen soll. In den Himmel, wo sie sich wieder mit ihrer Familie vereint? Schliesslich sind Gläubige vor allem vom Wunsch beseelt, die Eltern und die Lebenspartner wiederzutreffen. Und später natürlich auch die Kinder. Doch das sind alles allzu menschliche Bedürfnisse. Und ob der Himmel nach diesen funktioniert, lässt sich zumindest bezweifeln. Wieso soll es sich mit der Seele nicht gleich verhalten wie mit allem Leben: Sie wird – falls es sie tatsächlich gibt – geboren, um zu sterben.

Auf jeden Fall ist der Tod eine bereichernde Erfahrung für die Lebenden: Mit Ritualen wie der Leichenverbrennung am Ganges wird das Bewusstsein für das Leben geschärft.

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