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Channel: Hugo Stamm
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Vom Sinn und Unsinn des Leidens

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Abbildung des leidenden Jesus am Kreuz. (Flickr/Waiting for the World)

Abbildung des leidenden Jesus am Kreuz. (Flickr/Waiting for the World)

Leid und Leiden sind unsere ständigen Begleiter durchs Leben. Wir leiden permanent, wenn auch je nach Lebenssituation mehr oder weniger ausgeprägt. Das Leid hat unzählige Gesichter. Seelische Not, psychische Probleme, Verlustängste, Existenzprobleme und vor allem körperliche Schwierigkeiten bedrängen uns.

Die Frage, weshalb wir leiden müssen und welchen Sinn das Leiden hat, gehört zu den Kernthemen der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt. Die Kunst befasst sich damit, aber auch die Philosophie. In erster Linie ist das Leiden aber das Hoheitsgebiet der Religionen und Glaubensgemeinschaften. Sie geben ihm eine höhere Bedeutung und messen ihm einen spirituellen Sinn bei. Sie versuchen, das Leiden nicht als Konstante des unvollkommenen Lebens und der chaotischen Wirklichkeit zu begreifen, sondern als sinnstiftendes Phänomen.

Der Hintergrund: Heilslehren betrachten die Welt und den Kosmos als von Gott erschaffen. Da dieser Gott das Absolute und das absolut Gute verkörpert, ist es nicht denkbar, dass er eine unvollkommene Welt geschaffen hat, an der wir ein Leben lang zu leiden haben. Sonst würde das Gottesbild in sich zusammenbrechen und Gott als Autorität mit beschränkter Kompetenz erscheinen. Und alle relevanten Religionen müssten ihre Heilslehren radikal revidieren. Da dies nicht sein darf, weil es in den Augen der Gläubigen nicht sein kann, geben sie dem Leiden einen höheren, einen religiösen Sinn. Doch hat das Leiden tatsächlich eine spirituelle Bedeutung?

Alle grossen Religionen deuten das Leiden als zentrale transzendentale Funktion. Wir leiden nicht für das Leben im Diesseits, sondern für das Leben nach dem Tod oder für das nächste Leben. Leiden als Prüfung für eine spätere Existenz. Im Christentum ist die Ursünde von Adam und Eva der Grund für das Leiden. Im Paradies gab es das Leiden nicht. Und im Himmel wird es auch keine Schmerzen und Depressionen mehr geben. Wir Leiden im Diesseits, um den schmalen Spalt ins Jenseits zu finden.

Im Buddhismus ist das Leiden ebenfalls das zentrale Phänomen. Man entsagt sich der Welt, um das Leiden zu überwinden. Im Hinduismus darf man nicht einmal Strategien entwickeln, um das individuelle Leiden zu überwinden. Denn Leiden stammt in erster Linie von der karmischen Belastung; man muss es erdulden, um es abzubauen und im nächsten Leben belohnt zu werden. Auch Allah prüft die Moslem durch Leid.

Diese Erklärungsversuche des schwer zu begreifenden Phänomens des Leidens mögen bei der Gründung der Weltreligionen vor 1500, 2000 und 2500 Jahren plausibel gewesen sein, beim heutigen Stand der naturwissenschaftlichen und geistigen Erkenntnisse sind sie aber anachronistisch.

Denkt man die religiösen Begründungen nämlich konsequent zu Ende, müssten wir das Leiden mit all seinen Schattierungen stoisch erdulden. Wir dürften keine säkularen Massnahmen treffen, um das Leid zu verhindern oder zu lindern. Konkret: Medizinische Therapien greifen in die religiöse Dimension des Leidens ein. Sie mildern das Leiden und schwächen die Prüfung ab. Dasselbe gilt bei verkehrstechnischen Sicherheitsmassnahmen. Religiös verstanden sind Unfälle Prüfungen. Auch müssten alle Formen der Prävention eingestellt werden. Impfen? Wozu? Kinderlähmung und Cholera dienen dem spirituellen Wachstum durch Leiden. Doch: Ein Virus greift uns nicht an, weil es uns umbringen will, sondern weil es überleben will.

Religionen versuchen also, dem Leiden einen Sinn zu geben. Das mag löblich sein, ist aber ziemlich unbeholfen und philosophisch einfältig. Heilslehren gehen davon aus, dass Gott bewusst eine unvollkommene Welt geschaffen hat, um den Menschen leiden zu lassen und ihn zu prüfen. Dabei leiden wir, weil die «Schöpfung» chaotisch ist und nach Naturgesetzen und nicht nach religiösen Kriterien funktioniert. Und weil das Leben ein Überlebenskampf ist, dem die ganze Kreatur unterliegt. Wir Menschen fressen Tiere, die Tiere bringen sich gegenseitig um, die Bäume nehmen den Sträuchern das Licht weg, das Unkraut verdrängt die «Kulturpflanze». Einen religiösen Sinn des Leidens ist da nur schwer auszumachen.


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