
Missionieren im öffentlichen Raum ist ein fragwürdiges Recht: Ein Stand von Scientology in Zürich. (Keystone/Franco Greco)
Aufklärung und Menschenrechte brachten die Errungenschaft der Religionsfreiheit. Diese garantiert dem Individuum das Recht, seine Religion und seinen Glauben ungehindert auszuüben – solange damit nicht übergeordnete Rechte tangiert werden. Alle Bürgerinnen und Bürger dürfen also mit dem Segen des Staates einen Glauben wählen, eine Glaubensgemeinschaft gründen, Ritualräume bauen und die eigene Religion propagieren, also neue Mitglieder rekrutieren oder missionieren.
Die Rechtsgrundlage ist also klar, bei der konkreten Anwendung oder Umsetzung gibt es wie bei vielen Verfassungsartikeln und Gesetzen Graubereiche. Zum Beispiel: Ist es zulässig, dass nur die Landeskirchen die Kirchensteuer vom Staat eintreiben lassen können?
Auch sonst geniessen die Landeskirchen einen erheblichen Standort- und PR-Vorteil. Katholische oder reformierte Gottesdienste bei Eidgenössischen Schwingfesten sind zum Beispiel Tradition. Ereignet sich eine Katastrophe (Erdbeben, Flugzeugabsturz und Ähnliches), finden in christlichen Kirchen Gedenkgottesdienste statt, an denen in der Regel politische Prominenz teilnimmt.
Dagegen ist kaum viel einzuwenden, denn Kirchen eignen sich schon von den Räumlichkeiten her als Ort, wo die kollektive Trauer ausgedrückt werden kann. Ausserdem entsprechen solche Veranstaltungen einer langen Tradition. Doch was ist, wenn bei einer Katastrophe – zum Beispiel einem Bombenanschlag – vor allem Muslime umkommen? Findet dann die öffentliche Trauerfeier in einer Moschee statt? In Anwesenheit von Bundesräten oder Regierungsräten?
Die Glaubensfreiheit führt aber noch lang nicht zu einer Gleichberechtigung der Glaubensgemeinschaften. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine solche angestrebt werden soll oder sinnvoll ist.
Ich bin durchaus dafür, dass die christlichen Grosskirchen gewisse Privilegien haben, die aus der Tradition entstanden sind. Mir ist es lieber, wenn ein reformierter Geistlicher eine Trauerfeier zelebriert statt ein Prediger einer Freikirche oder ein «ehrenamtlicher Geistlicher» von Scientology. Bei diesen ist der Drang, ihre Glaubensbotschaften vor einem grossen Publikum ins gute Licht zu rücken, in der Regel grösser als bei den Landeskirchen.
In einem Punkt wird die Religionsfreiheit für mich aber arg strapaziert. Sie erlaubt es den Glaubensgemeinschaften, den öffentlichen Raum zu Missionszwecken zu benutzen. Wo bleibt da der Schutz des Einzelnen, der die Religionsfreiheit – im wahrsten Sinn des Wortes – auch für sich in Anspruch nehmen kann? Hier schanzt die Glaubensfreiheit religiösen Gemeinschaften und Sekten ein fragwürdiges Recht zu. Ich habe einmal an einem Samstag die religiösen Gruppen gezählt, die an der Bahnhofstrasse in Zürich auf Seelenfang gingen. Ich kam auf 13. Unter ihnen waren mehrere Freikirchen und die Scientologen, die einen Stand bei der Pestalozzi-Wiese führten und Passanten massierten, um so mit ihnen leichter ins Gespräch zu kommen. Das Wort Scientology war nirgends zu lesen.
Die Krux liegt daran, dass man die Religionsfreiheit aus Sicht der Gläubigen oder der Glaubensgemeinschaften betrachten kann. Meines Erachtens müsste man den Schwerpunkt wenn immer möglich auf das Individuum legen.